»Eine ziemlich perfide Nummer«

Festnahme in Nürnberg, Auslieferungsverfahren gegen Maja T. und gute Nachrichten aus Italien

In Leipzig ist man Kummer gewohnt: In steter Regelmäßigkeit fliegen dort seit Jahren in der Morgendämmerung die Türen auf – zuletzt am 24. April, als zehn Häuser von der Soko LinX des Landeskriminalamts Sachsen durchsucht wurden. Die Razzien richteten sich gegen sieben Linke, gegen die wegen des Verdachts der gemeinschaftlich begangenen gefährlichen Körperverletzung ermittelt wird. Im Osten nichts Neues.

Doch das Landeskriminalamt Sachsen macht nicht mehr vor Landesgrenzen halt: In Nürnberg durchsuchten die sächsischen Beamten in Zusammenarbeit mit der bayerischen Spezialeinheit USK am 6. Mai rund sieben Stunden lang die Privaträume der Antifaschistin Hanna S. Die 29-Jährige wurde in diesem Zuge festgenommen und zur Haftprüfung nach Karlsruhe gebracht. Inzwischen sitzt sie in U-Haft.

Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) wirft ihr die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen vor. Sie soll sich an zwei Angriffen auf Neonazis am »Tag der Ehre« 2023 in Budapest beteiligt haben. Auf welcher Ermittlungsgrundlage Hanna S. konkret beschuldigt wird, ist derzeit noch unklar. Das bestätigt auch Yunus Ziyal, Strafverteidiger von Hanna S. auf Anfrage von ak. Er habe bisher noch keine Ermittlungsakten erhalten, weder aus Deutschland noch aus Ungarn.

Seit Monaten fahndet die ungarische Polizei gemeinsam mit deutschen Behörden nach mehreren deutschen Antifaschist*innen mit internationalen Haftbefehlen. Doch Hanna S. tauchte bisher nicht unter den Gesuchten auf. Dennoch befürchtet man in Solikreisen nun, dass auch Hanna S. von einer Auslieferung bedroht sein könnte – ähnlich wie Maja T.

Menschenrechtsverletzungen als Druckmittel

Auch Maja T. wird vorgeworfen, im Februar 2023 mehrere Nazis in Budapest körperlich angegriffen zu haben. Die nonbinäre Person aus Thüringen wurde im Dezember 2023 festgenommen und sitzt in Auslieferungshaft. Für Maja T. könnte eine Auslieferung nach Ungarn zum Albtraum werden, denn die ungarische Regierung unter Orbán hat in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe queerfeindlicher Gesetze auf den Weg gebracht.

Mehrfach wurde Ungarn von der EU-Kommission oder EU-Mitgliedstaaten deshalb verklagt. Die mangelnden Rechte für LGBTIQ-Personen spiegeln sich in der ungarischen Justiz und damit zwangsläufig auch in den Haftanstalten wider. Das Kammergericht Berlin sieht jedoch keine »grundsätzlichen Hindernisse« für eine Auslieferung.

Über die Auslieferung selbst wurde aber bislang nicht entschieden. Das Berliner Kammergericht forderte zunächst Berichte aus Ungarn über den Umgang mit nonbinären Personen in Haftanstalten an. »Inzwischen liegt eine erste Antwort der ungarischen Behörden auf die Anfragen des Kammergerichts vor«, sagt Sven Richwin, Strafverteidiger von Maja T.

»Darin erfolgt allerdings keine Zusicherung in welcher ungarischen Haftanstalt eine Inhaftierung erfolgen würde – was einer Überprüfung der konkreten Haftbedingungen im Wege steht. Mit einer Entscheidung des Kammergerichts ist wohl frühestens im Juni zu rechnen.«

Hanna S. tauchte bisher nicht unter den Gesuchten auf. Dennoch befürchtet man in Solikreisen nun, dass auch sie von einer Auslieferung bedroht sein könnte.

Auch jenseits dessen, dass Ungarn gegen rechtsstaatliche Minimalstandards verstößt und mit unmenschlichen Haftbedingungen zu rechnen ist, überraschen die deutschen Auslieferungsbestrebungen – schließlich liegt der Fall inzwischen bei der Generalbundesanwaltschaft, die einen klaren Verfolgungswillen gezeigt hat. Die GBA räumt allerdings dem Verfahren in Ungarn Priorität gegenüber einem Prozess vor hiesigen Gerichten ein. Gleichzeitig versuchte sie in Bezug auf den deutschen Haftbefehl, das Verfahren in Vorwurfschwere und Umfang auszuweiten.

»Hinsichtlich des Versuchs, den Tatvorwurf auf versuchten Mord auszuweiten, ist die GBA zwar vor dem BGH gescheitert, gleichzeitig werden die Ermittlungen aber auf weitere mutmaßliche Tatbeteiligungen in Deutschland erweitert«, erklärt Strafverteidiger Richwin.

»Parallel betreibt die Generalstaatsanwaltschaft Berlin die Auslieferung von Maja weiter. Die gehäuften Berichte und eidesstattlichen Versicherung über die desaströsen Haftbedingungen in Ungarn werden dabei beispielsweise als ›subjektive Schilderungen‹ abgekanzelt«, so Richwin weiter. Die Haftbedingungen in Ungarn funktionieren gleichzeitig als Drohgebärde, ordnet Richwin ein:

»Die Bundesanwaltschaft versucht, die Bedingungen in Ungarn zu nutzen, um Maja, aber auch die noch gesuchten Personen zu einer Aussage zu bringen – als Bedingung für ein Auslieferungshindernis. Um einem mangelnden rechtsstaatlichen Verfahren in Ungarn zu entgehen, sollen die Beschuldigten somit auf ein rechtsstaatliches Verfahren in Deutschland verzichten. Eine ziemlich perfide Nummer.«

Aus der ungarischen Haft ins EU-Parlament?

Unterdessen zeichnet sich in Italien ein ganz anderes Bild ab: Am 25. April gab Roberto Salis, der Vater der seit 16 Monaten in ungarischer U-Haft sitzenden Ilaria Salis, beim Europäischen Parlament in Straßburg die Kandidatur seiner Tochter zur Europawahl bekannt. Ilaria Salis tritt für die Alleanza Verdi e Sinistra, eine grün-linke Allianz, die zur Grünen-Fraktion des EU-Parlaments gehört, an.

Dass ein Wahlkampf aus ungarischer Haft heraus nicht zu machen ist, unterstrich Ilarias Vater Roberto Salis bei einer Pressekonferenz: »Sie ist 23 Stunden am Tag in einer Zelle eingesperrt, mit einer Stunde an der frischen Luft und 70 Minuten Kommunikation pro Woche. Offensichtlich hat sie keine Möglichkeit, ihre Kandidatur richtig voranzutreiben, aber wir müssen trotzdem darüber reden.«

Seit dem 15. Mai ist klar: Ilaria Salis wird aus dem ungarischen Gefängnis entlassen. Das ungarische Gericht gab in zweiter Instanz der Berufung von Ilarias Anwälten statt. Gegen eine Kaution von 40.000 Euro wird sie in Ungarn unter Hausarrest gestellt und muss eine elektronische Armfessel tragen. Der italienische Außenminister Antonio Tajani zeigte sich gegenüber italienischen Medien am Rande des Gerichtssaals zufrieden. Dass Salis nun in Hausarrest überstellt werde, sei das gewesen, was man habe erreichen wollen. Er hoffe auf einen Freispruch und dass Ilaria Salis schnellstmöglich wieder nach Italien zurückkehren könne.

Italien hatte außerdem Ende März die Auslieferung von Gabriele M., einem weiteren Beschuldigten im Budapest-Komplex, nach Ungarn abgelehnt. Das Mailänder Berufungsgericht sah die »Gefahr unmenschlicher Behandlung in ungarischen Gefängnissen« und begründete die Ablehnung des Auslieferungsantrages damit, dass »berechtigte Befürchtungen hinsichtlich realer Risiken einer Verletzung von Grundrechten« bestünden. Tajani reklamierte die Überstellung von Ilaria Salis in den Hausarrest als diplomatischen Erfolg, der auf die intensive Arbeit der italienischen Regierung und ihrer Botschaft im Stillen zurückzuführen sei.

Bei der Bundesregierung und der deutschen Botschaft herrscht unterdessen Grabesstille. Das kritisiert auch Sven Richwin, Strafverteidiger von Maja T.:

»Das Auswärtige Amt, das sich auf europäischer Bühne stets den Bekundungen gegen den fehlenden Rechtsstaat in Ungarn anschließt, ist im Konkreten dann doch auffallend still. Die von Frau Baerbock postulierte ›wertegeleitete Außenpolitik‹ findet ihre Grenzen offenbar in der ungebremsten Zusammenarbeit mit den ungarischen Ermittlungsbehörden, die ohne vergleichbare rechtsstaatliche Kontrolle agieren können.«


Der Budapest-Komplex

Jedes Jahr am 11. Februar versammeln sich weit über tausend Neonazis aus ganz Europa in Budapest, um in geschichtsrevisionistischer Manier den Tausenden deutschen Nazisoldaten und ihren ungarischen Kollaborateuren zu huldigen. Diese hatten 1945 versucht, die Belagerung der Roten Armee zu durchbrechen, was einem Selbstmordkommando gleichkam. 2023 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Antifaschist*innen und Neonazis und mehreren direkten Angriffen auf Neonazis. Die ungarische Polizei fahndet seitdem mit europäischen und internationalen Haftbefehlen nach Antifaschist*innen aus mehreren Ländern, davon etwa zehn aus Deutschland. Sie entziehen sich den Behörden, weil ihnen eine Auslieferung nach Ungarn droht.

Dagegen wenden sich die Eltern der Beschuldigten. Sie weisen darauf hin, dass ihren Kindern bei einer Auslieferung Haftstrafen drohen, die um ein Vielfaches höher sind, als es in Deutschland zu erwarten wäre. Mehrere Untergetauchte hatten angekündigt, sich stellen zu wollen, wenn ihnen ein Verfahren in Deutschland zugesichert würde. Gegen Ilaria Salis und eine Beschuldigte aus Deutschland läuft aktuell ein Prozess in Budapest, der am 24. Mai 2024 in die Hauptverhandlung geht. Ein dritter Beschuldigter aus Deutschland wurde nach einem Geständnis zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt.